Wenn Sie sich in sozialen Situationen gehemmt oder ängstlich fühlen und Angst davor haben, von anderen Menschen negativ bewertet oder als merkwürdig und peinlich empfunden zu werden, dann könnten Sie an einer sozialen Phobie (sozialen Angst) leiden.
Eine soziale Situation oder auch nur die Vorstellung, sich in einer solchen zu befinden, kann bei Menschen mit sozialer Phobie zu körperlichen Angstreaktionen (z.B. Muskelanspannung, Zittern, starkes Herzklopfen) oder sogar zu Panikattacken führen. Aus diesem Grund neigen viele Betroffene dazu, Situationen, vor denen sie Angst haben, zu meiden. Oder sie greifen zu Alkohol oder Drogen, um ihre Angst zu überwinden. Diese Symptome schränken das Leben sozial-ängstlicher Personen extrem ein. So haben sie Schwierigkeiten, soziale Beziehungen aufzubauen, leben häufig ohne Partner oder völlig isoliert und können keinen Beruf erfolgreich ausführen, obwohl die Qualifikation hierfür vorhanden ist.
Die gute Nachricht ist, dass eine soziale Phobie überwindbar ist. Ihre Ursachen liegen zumeist in destruktiven Überzeugungen und mangelnden sozialen Kompetenzen. Deshalb ist es möglich, mit viel Disziplin, Ausdauer und Selbstreflektion die Wurzeln der sozialen Phobie zu bekämpfen und sich dauerhaft von ihr zu befreien.
Um an den destruktiven Überzeugungen, die zu der Angst vor sozialen Situationen führen, arbeiten zu können, ist es zunächst erforderlich, die Ursachen dieser Angst zu verstehen.
Hierbei gibt es zwei Möglichkeiten, wobei in den meisten Fällen eine Kombination aus beiden der Fall sein wird.
Zum einen neigen Menschen mit sozialer Phobie zu „ungesunder Empathie“. Sie sprechen den Verkäufer nicht an, weil Sie ihn bei seiner Tätigkeit stören könnten; fragen nicht nach dem richtigen Weg, weil der Passant vermutlich nicht angesprochen werden möchte; haben Angst, etwas Falsches zu sagen, weil es Ihr Gegenüber verletzen könnte. Sie sind also der Überzeugung, dass alle Menschen grundsätzlich in Ruhe gelassen werden möchten und schnell beleidigt sind.
Es ist wichtig, sich dieser „ungesunden Empathie“ bewusst zu werden und zu verstehen, dass die damit verbundenen Überzeugungen nur im eigenen Kopf existieren und in der Realität das Gegenteil der Fall ist.
Nun ist es nicht leicht, an die eigenen Überzeugungen heranzukommen, denn man möchte sich diese nicht immer sofort eingestehen. Deshalb ist es wichtig, täglich über sie zu reflektieren und zu versuchen, ehrlich mit sich selbst zu sein.
Wenn Sie feststellen, dass Sie tatsächlich zu überempathischen Überzeugungen neigen, dann besteht der nächste Schritt darin, diese mit der Realität zu vergleichen. Machen die Menschen in Ihrer Umgebung den Eindruck, als fühlten sie sich gezwungen, sich miteinander zu unterhalten? Antwortet der Verkäufer dem fragenden Kunden genervt oder patzig? Sie werden schnell erkennen, dass die meisten Menschen es lieben, sich zu unterhalten und gerne weiterhelfen.
Soziale Interaktionen und ausgeübte Hilfeleistungen geben uns das Gefühl, gebraucht zu werden, interessant und wertvoll zu sein. Aus diesem Grund werden die meisten Menschen sich freuen, angesprochen zu werden und weiterhelfen zu können. Es ist wichtig, sich diese Tatsachen täglich bewusst zu machen und sie bei anderen Menschen bewusst zu beobachten. Auf diesem Weg werden Sie sich von der Sorge befreien, jemandem auf den Senkel zu gehen oder etwas zu sagen, und damit eine große Blockade lösen, mit Menschen ins Gespräch zu kommen.
Zum anderen liegt die Wurzel für soziale Angst in einem schwachen Selbstwertgefühl.
Ein geringes Selbstwertgefühl und mangelndes Selbstbewusstsein resultieren in einem Schutzmechanismus, der den ohnehin geringen Selbstwert vor Ablehnung, Erniedrigung und Niederlagen schützen soll. Man hat Angst, sich in soziale Situationen zu begeben, weil man verletzt oder abgelehnt werden könnte. Das Gespräch könnte eine unerwartete Situation hervorrufen, von der man nicht weiß, ob man sie meistern wird. Es besteht also die Möglichkeit, sich zu blamieren, was das eigene Selbstwertgefühl weiter kränken würde.
Um sich von der Angst, im eigenen Selbstwert gekränkt zu werden, lösen zu können, besteht Ihre Aufgabe also darin, das eigene Selbstwertgefühl zu stärken und aufzubauen. Und das können Sie tun, indem Sie an Ihrem eigenen Selbstbild und an der Vorstellung von Ihrem „idealen Selbst“ arbeiten. Vermutlich werden Sie eine zu ideale Vorstellung davon haben, wie Sie eigentlich sein müssten – wie Sie sich im Umgang mit anderen Menschen verhalten, wie Sie reden, wie offen und kontaktfreudig Sie sein sollten. Diese unrealistischen Vorstellungen und Erwartungen an sich selbst sind so unerreichbar, dass sie Sie unter Druck setzen.
Machen Sie sich deshalb bewusst, dass jeder Mensch individuell ist und seine Stärken hat. Höchstwahrscheinlich sind Sie einfach nicht der geborene Comedian und werden es auch niemals sein und das ist völlig in Ordnung. Genau deshalb sollten Sie es aber auch nicht von sich erwarten.
Statt sich auszumalen, wie das „ideale Ich“ ohne sozialer Phobie sein sollte, ist es viel sinnvoller, die eigene Art des Umgangs mit Menschen zu erforschen und zu praktizieren. Herauszufinden, wer man ist, wofür man steht und zu versuchen, die eigne Persönlichkeit auszuleben. So entlasten Sie sich von dem Druck Ihrer unrealistischen Vorstellungen und es wird Ihnen automatisch viel leichter fallen, den Situationen, vor denen Sie heute Angst haben, freier und offener zu begegnen.
Die Orientierung daran, was in einer Situation richtig oder falsch zu sagen oder zu tun ist, kann schnell zu einer Blockade führen. Denn wir alle sind verschiedene Persönlichkeiten mit verschiedenen Ansichten, sodass immer die Möglichkeit besteht, etwas zu sagen oder zu tun, was aus Sicht einer anderen Person falsch ist. Da eine Person mit sozialer Phobie dazu neigt, keine Fehler machen zu wollen, wird eine Richtig-oder-Falsch-Orientierung sie hemmen, überhaupt etwas zu tun oder zu sagen.
Tatsächlich gibt es in sozialen Situationen jedoch kein richtig oder falsch. Stattdessen gibt es verschiedene Individuen mit verschiedenen Talenten, Fähigkeiten und Ansichten und es gilt, diese Individualität nach außen auszuleben.
Wie aber können Sie das gewohnte Richtig-Falsch-Spiel verlassen und sich stattdessen darauf konzentrieren, die eigene Persönlichkeit auszudrücken?
Statt sich zu fragen, ob das, was Sie tun oder sagen, richtig oder falsch ist, fragen Sie sich: „Ist es fair, ist es respektvoll und freundlich?“ Die Orientierung an Werten wird Sie über das Richtig-Falsch-Spiel heben, sodass Sie über Ihre Angst hinauswachsen können. Denn nun ist es egal, ob Sie sich „richtig“ ausdrücken oder das "richtige" sagen. Sie wissen, dass Sie gute Absichten haben, dass Sie sich für Fairness, Gerechtigkeit, Respekt und Offenheit einsetzen, und diese Dinge stehen für Sie im Vordergrund.
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Sie sind in einem Gespräch mit einem Verkäufer und haben das Gefühl, dass er Ihnen Dinge verschweigt oder nicht klar ausgedrückt hat. Wenn Sie sich nun im Richtig-Falsch-Spiel oder im Empathie-Spiel befinden, werden Sie sich unsicher sein, ob es denn in Ordnung ist, dem Verkäufer noch weitere Fragen zu stellen oder zu zeigen, dass sie ihm misstrauen. Obwohl Sie das Gefühl haben, dass Sie gewisse Themen noch klären müssten, werden Sie diese nicht ansprechen, aus der Sorge heraus, etwas Falsches zu sagen. Wenn Sie sich auf der anderen Seite auf der Werteebene befinden und sich an gegenseitigem Respekt und Selbstrespekt orientieren, dann werden Sie erkennen, dass es offensichtlich respektlos ist, Ihnen Dinge vorzuenthalten, die relevant für Ihre Kaufentscheidung sind. Und es wird zu Ihrer moralischen Pflicht, Ihre Bedenken anzusprechen und sich Klarheit zu verschaffen, um sich selbst gegenüber respektvoll zu handeln.
Ihre Werte werden sozusagen zu Ihrem Wegweiser in sozialen Situationen und geben Ihnen den nötigen Halt, um zuversichtlich in Gespräche einzusteigen, ohne Angst zu haben, einen Fehler machen zu können oder mit einer unbekannten Situation oder Frage überfordert zu sein. Und die Abwesenheit der Angst ermöglicht es Ihnen automatisch Ihre Individualität in sozialen Situationen auszudrücken.
Und das gilt für alle Menschen, nicht nur für Sie. Es liegt in der Natur der Dinge, dass Menschen extrem verschieden sind und einander nicht immer sofort verstehen. Sich diese Tatsache bewusst zu machen und sie zu akzeptieren, ist wichtig und erleichternd. Es kann immer passieren, dass Ihr Gesprächspartner etwas falsch verstehen wird oder dass es Ihnen nicht gelingen wird, sich richtig auszudrücken, und womöglich werden Sie auch nicht die Möglichkeit haben, dieses Missverständnis aus dem Weg zu räumen. Es wird immer Menschen geben, die Sie aufgrund von Missverständnissen für einen Dummkopf halten könnten. Diese Möglichkeit besteht nicht nur für Sie, sondern das gilt für alle Menschen - es ist völlig normal.
Wenn Sie von Anfang an akzeptieren, dass diese Dinge passieren können und dass es ganz normal ist, dann akzeptieren Sie auch den damit verbundenen Schmerz schon bevor Sie in ein Gespräch gehen. Das wiederum wird Ihnen die Angst vor solchen unangenehmen Situationen nehmen, sodass es viel leichter sein wird, sich in Gespräche mit Mitmenschen zu begeben und frei die eigene Meinung zu äußern.
Es ist ein Teufelskreis: Die Angst vor Gesprächen und sozialen Interaktionen führt dazu, dass Sie sich selten an Gesprächen beteiligen und somit Ihre sozialen Kompetenzen nicht ausbauen, was wiederum Ihre Angst verstärkt, sich an Gesprächen mit den Mitmenschen zu beteiligen.
Dabei muss der Ausbau sozialer Kompetenzen nicht unbedingt in sozialen Situationen erfolgen. Zum einen gibt es eine Fülle an Büchern zum Thema Kommunikation und Smalltalk, mit denen Sie sich auseinandersetzen können. Zum anderen sollten Sie beginnen, regelmäßig zu üben, sich über einfache Themen zu unterhalten, indem Sie sich selbst etwas zu verschiedenen Themen erzählen – beispielsweise zuhause oder im Auto. So bauen Sie Ihren aktiven Wortschatz aus und werden entgegen Ihrer bisherigen Überzeugungen erkennen, dass Sie tatsächlich in der Lage sind, 5 Minuten oder länger etwas zu erzählen. Dies wiederum wird Ihnen das Selbstvertrauen geben, sich auch mit anderen Menschen zu unterhalten.
Wichtig ist, dass Sie sich bewusst machen, dass alle Gespräche mit banalen Dingen beginnen. Sie müssen nicht etwas Großartiges zu sagen haben, um eine Konversation zu beginnen oder einen Diskussionsbeitrag zu leisten, sondern Sie können mit oberflächlichen Themen einsteigen. Und wenn Sie erst einmal im Gespräch sind, wird es viel leichter sein, bei Bedarf auch über tiefere oder komplexere Themen zu sprechen.
Als sozial-ängstlicher Mensch werden Sie dazu neigen, sich selbst einzureden, dass Sie nicht auf neue Menschen zugehen können, dass Sie sich nicht unterhalten können oder gar, dass Sie dumm sind. Und je mehr Sie sich diese Dinge einreden und sich auf diesem Extrempunkt bewegen, desto schwieriger werden Ihnen die jeweiligen Dinge tatsächlich fallen. Das bedeutet aber auch nicht, dass Sie sich auf dem gegenüberliegenden Extrempunkt bewegen und sich einreden sollten, dass Sie der Meister der Kommunikation und der geborene Stimmungsmacher sind, wie es häufig geraten wird. Denn Sie wissen genau, dass das Blödsinn ist, und würden sich nicht ernst nehmen können.
Stattdessen sollten Sie beginnen, sich realistisch einzuschätzen und Ihre Überzeugungen zu hinterfragen. Ist es wirklich wahr, dass Sie nicht auf Menschen zugehen oder sich nicht unterhalten können? Gibt es tatsächlich keine Situationen, in denen Sie diese Dinge bewerkstelligt haben? Offensichtlich kann dies nicht der Fall sein. Denn wenn Sie sich auch nur mit Ihren Familienmitgliedern oder engen Freunden unterhalten haben, dann haben Sie sich schon einmal mit Menschen unterhalten. Sind Sie deshalb nun ein Meister der Kommunikation? Natürlich nicht, aber das müssen Sie auch nicht sein. Fakt ist, dass Sie in der Lage sind, sich zu unterhalten, und das bedeutet, dass Sie diese Fähigkeit auch weiter ausbauen können, indem Sie sie immer wieder praktizieren. Hierzu müssen Sie nicht perfekt sein und das sollten Sie sich auch nicht einreden.
Machen Sie es sich zur täglichen Routine, Ihre extremen Überzeugungen zu hinterfragen und sich die Realität bewusst zu machen. Auf diese Weise wird sich Ihr Bewusstsein immer mehr für die tatsächlichen Wahrheiten öffnen und Sie werden Ihre eigenen Fähigkeiten wie auch die Fähigkeiten anderer Menschen realistischer einschätzen, sodass es Ihnen viel leichter fallen wird, mit Menschen in Kontakt zu treten und ein sozial aktiveres Leben zu führen.
Wie Sie dem Beitrag sicher entnehmen konnten, werden Sie Ihre soziale Phobie nicht über Nacht los. Es erfordert viel Disziplin und Arbeit an den eigenen Überzeugungen, am eigenen Weltbild sowie an Ihren sozialen Kompetenzen. Die gute Nachricht ist, dass Ihre Arbeit belohnt wird. Wenn Sie sich erst einmal die richtigen Überzeugungen angeeignet haben, werden Sie feststellen, dass Ihre soziale Phobie automatisch abnehmen wird, ohne dass Sie sich ständig zu mutigen Handlungen überwinden müssen. Auch wenn es sich nicht so anfühlen mag, Ihr Zustand ist heilbar. Bleiben Sie deshalb dran und verlieren Sie nie den Mut. Und erwarten Sie vor allem nicht zu viel von sich und nehmen Sie sich nicht zu viel vor, sondern seien Sie realistisch. Das wird Ihnen bereits in diesem Augenblick den Druck nehmen und eine starke Basis schaffen, den Kampf gegen Ihre Blockaden aufzunehmen.